24 Oktober 2017 by Edith Urban
documenta 14
video-installation
Artur Zmijewski
Die documenta 14 wird zweifellos als die meistkritisierte documenta seit ihrer Erstausgabe 1955 unter der Kuatorenschaft von Arnold Bode und Werner Haftmann Geschichte machen.
Kurator Adam Szymczyk, 2013 ausgewaehlt von einer hochkaraetigen Findungskommission (siehe unten), wollte eine ‘politische documenta’ – mit dem Anspruch, ‘den draengensten Fragen der Gegenwart’ nachzugehen.
Zwar sind in dem von ihm zusammengestellten internationalen Kuratorenteam (Dieter Roehlstraete _Monika Szewczyk _ Bonaventure Soh Bejeng Ndikung _ Paul B. Preciado _ Pierre Bal-Blanc _ Candice Hopkins) sehr unterschiedliche Ansaetze vertreten, geeint jedoch in dem Anspruch/Ziel einer kritischen Auseinandersetzung mit Gegenwart: “Ein Feld für Kunst-Konsumenten soll die documenta nicht sein, sondern eine “Erfahrung ohne vorprogrammierte Erwartungen”.
Schon das Motto ‚von Athen lernen‘ provoziert – die Diskussionen ueber die europaeischen Milliardenzahlungen haben nicht nur in der Bundesrepublik anti-griechische Gefuehle geschuert und populistischen Vereinfachungen Vorschub geleistet.
Die teilweise vernichtenden Kritiken fokussieren auf unterschiedliche Ebenen:
zu viel ‚Agitprop und Moralpredigt‘, Vernachlässigung der künstlerischen Qualität (‚gut gemeint, aber nicht gut gemacht‘), Konzeptlosigkeit in der Haengung, Hypokrisie bzgl der Sponsoren (VW) und vieles mehr.
Ich moechte mir nicht anmassen, den einzelnen Kritiken nachzugehen: ich habe maximal ein Viertel dessen gesehen, was man in Kassel haette sehen koennen, wahrscheinlich nicht einmal das – 1 ½ Tage sind bei weitem zu wenig.
Die einzige Kritik, die ich aus eigener Anschauung teilen konnte, war die zum Teil deprimierende Praesentation von Arbeiten, die in einem anderen Umfeld ihre inhaltliche und auch poetische Kraft ganz anders haetten entfalten koennen.
Mein ‘Kriterium’ bei solchen Grossausstellungen ist ein sehr subjektives: ich warte einige Tage ab, um zu sehen, welche Arbeiten ich ‘mitgenommen’ habe, welche Bilder, welche Inhalte sich in mir ‚ablagern‘, sedimentieren – alles andere versinkt spaeter immer weiter im Vergessen.
Was also ist mir geblieben von den etwa 50 Arbeiten, die ich in Kassel ansehen konnte?
In Gesprächen mit Freunden wurde mir bewusst, dass ich immer wieder auf die gleiche Arbeit zu sprechen kam:
Es handelt sich um eine 6_Kanal_Video_Installation in der Neuen Neuen Galerie (sog. Neue Hauptpost, ein zum ersten Mal von der documenta bespieltes Terrain) – im obersten Stock, im allerletzten Raum.
Was ist zu sehen:
Eine Video-Installation auf 6 Leinwaenden, das Filmmaterial in Schwarz-weiss, projiziert auf 3 Waende eines sehr grossen Raumes. Es gibt keinen Ton.
Auf der ersten Leinwand sieht man einen Mann in Sportkleidung, kurze Hose, T-shirt, er liegt auf einem Bett, die Beine sind bloss, es scheint, als mache er gymnastische Uebungen. Der Blick geht zu der naechsten Leinwand, rechts daneben, der gleiche Mann, dieses Mal sitzt er auf dem Bett – und erst auf den zweiten Blick erfasst man, was er tut: er schnallt seine Prothese an das rechte Bein. Man wendet sich irritiert zurueck zu dem ersten schermo – und realisiert, dass der Mann, der die Gymnastik macht, nur ein Bein hat, das zweite Bein ist unter dem Knie amputiert. Auf den weiteren Leinwaenden erscheint ein anderer Mann – auch er gross, attraktiv, sportlich, ein ‘Kerl’ – auch er beinamputiert und auch er in immer unterschiedlichen Positionen: er stemmt Gewichte, er zieht seine Prothese im Stehen an, einmal laeuft er im Strassenanzug durch eine namenlose Stadt, in einer anderen Aufnahme huepft er auf seinem einen gesunden Bein ueber einen Zebra-streifen, das leere Hosenbein flattert im Wind.
Die immense Kraft, die es ihn kosten mag, mit nur einem Bein die Strasse zu ueberqueren, sieht man ihm nicht an – aber ich fuehle in meinem eigenen Koerper diese unglaubliche Anstrengung nach.
Alle Filmaufnahmen wurden aus unterschiedlichen Perspektiven gemacht: manchmal sieht man nur den Unterkörper des Mannes, dann wieder den ganzen Menschen, dann wieder nur den Oberkörper, der nichts von der Versehrtheit verrät oder ahnen laesst: er steht dort, stuetzt die muskuloesen Arme auf die Hueften und sieht in die Kamera.
Wieso hat mich diese Arbeit so beschaeftigt? Sie wirkt ‘dokumentarisch’- aber nur auf den ersten Blick. Die Vielfalt der Aufnahmen, die rein konstatierende, nicht kommentierende Kamera, die Intimitaet der Situationen und die fast schon voyeristische Haltung, in die man als Zuschauer geraet, wuehlen mich auf. Ich setze mich, sehe mir die verschiedenen Filmloops an – die Tonlosigkeit rueckt die Videos zusätzlich in eine andere Dimension.
Es ensteht ein Narrativ, obwohl es keines gibt – es entwickelt sich automatisch:
Jeder dieser Maenner ist noch jung, hat noch Kraft, das sieht man.
Wo hat er sein Bein verloren und unter welchen Umstaenden, wie lange hat es gedauert, bis die Wunde soweit heilte, dass er eine Prothese tragen konnte, wie hat er das verkraftet. Wie sieht sein Alltag aus? Was hat er alles gesehen, wie geht er damit um, hasst er, liebt er, klagt er an? Ist er ein Kaempfer, der sich nicht unterkriegen laesst, oder ist seine Zurschaustellung – die keineswegs ‚abstossend‘ ist – ein Protest? Ist nur sein Koerper versehrt oder auch seine Seele?
Die kuehle Neutralitaet der Aufnahmen vertraut ausschliesslich der Wucht des Gezeigten.
Ich weiss nichts ueber den Kuenstler, nichts ueber den Hintergrund dieser Arbeit.
Als ich gehe, mache ich ein Foto von der Didascalia: die Arbeit heisst ‚REALISM‘ und stammt von 2017, der Kuenstler Artur Zmijewski, ein polnischer Kuenstler, ich kannte ihn nicht.
REALISM‘ nennt Zmijewski diese Installation – das heisst ‚ungeschminkte Wirklichkeit‘ oder auch ‘Bewusstwerdung’.
Im Woerterbuch finde ich: “Eine Art zu denken und zu handeln auf der Grundlage von Fakten und des Möglichen, anstatt auf unwahrscheinliche Dinge zu hoffen.”
Der Titel koennte nicht treffender sein: es gibt nur diese eine Realitaet, so wie es nur dieses eine Leben gibt. Diese Maenner werden nie wieder 2 Beine haben, das ist ihre Wirklichkeit, und sie gehen damit um, sie machen Sport, sie leben.
Und was habe ich damit zu tun?
Vielleicht spuere ich meine eigene ‘Amputiertheit’- in einem erweiterten Sinne, die Begrenzungen meines Lebens, jedes Lebens.
Als ich zurueck in Rom bin, habe ich Zeit, nachzulesen:
Artur Zmijewski wurde 1966 geboren in Warschau, seine Video-Arbeiten gelten als provokativ, nehmen tabuisierte Themen auf, sind oft auch umstritten. Fuer diese Arbeit hat er Kriegsopfer aus Tschetschenien aufgenommen.
Wenn diese documenta den Anspruch hatte, mit Kunst vorprogrammierte Erwartungen zu sprengen, neue Welterkenntnis und kritische Selbst-reflexion zu induzieren, so hat diese Arbeit das bei mir erreicht.
immagine da KUNSTFORUM nr. 248/249, pagina 175
- Suzanne Cotter, direttrice del Serralves Museum of Contemporary Art, Porto,
- Chris Dercon, direttore della Tate Modern, Londra,
- Susanne Gaensheimer, direttore del Museum für Moderne Kunst, Francoforte,
- Kim Hong-hee, direttore del Seoul Museum of Art, Seoul,
- Koyo Kouoh, direttrice artistica della RAW MATERIAL COMPANY, Dakar, Senegal,
- Matthias Mühling, direttore designato del Lenbachhaus, Monaco,
- Joanna Mytkowska, direttrice del Museum of Modern Art, Varsavia,
- Osvaldo Sánchez, direttore artistico di inSite, Città del Messico, Messico.
Edith Urban
Contatti:
www.edithurban.de
Vive a Roma dal 2003.
Il suo lavoro si colloca ai confini fra pittura, letteratura e ritmo. Accoglie frammenti di testo all’interno delle proprie opere componendo quadri, nella loro essenza monocromi.